Kontrolle und Biomacht

Wenn Disziplinargesellschaft Heim, Internate und Arbeit in Fabriken ist, so ist die Kontrollgesellschaft gleichbedeutend mit dem freien Markt, der Wissensgesellschaft und des ständigen globalen Unterwegsseins. Wir sind nichtlokalisierbar, selbstadjustierend und unser Leben ist unbeständig geworden.

“Die Disziplinargesellschaften haben zwei Pole: die Signatur, die das Individuum angibt, und die Zahl oder Registrierungsnummer, die seine Position in einer Masse angibt. […] In den Kontrollgesellschaften dagegen ist das Wesentliche nicht mehr eine Signatur oder eine Zahl, sondern eine Chiffre.” [deleuze1993pku]

Die Nummern befinden sich über den Individuen in einer künstlichen Atmosphäre und sind mit ihnen (direkt oder indirekt) über eine 1:1 Relation verbunden. Wo die Signatur noch in einem offen zugänglichen Register recherchiert werden kann, so stellt die Chiffre eine Verschlüsselung der Verbindung dar. Sie ist ohne Kenntnis des Codes (als Information) nicht dechiffrierbar.

Ein oder mehrere sich lose im Raum befindliche Netze, in denen die Informationen Knotenpunkt und Verbindungen Vektoren zwischen den Knoten darstellen.

In der Disziplinargesellschaft existieren autarke Netze nebeneinander, sie werden von jeweils einer Macht administriert. Es legt die Anordnung und das System der Netze fest. Die Entfaltung des Individuums und die Verfügbarkeit von Information ist somit durch die Grenzen des Netzes bestimmt, in dem es sich befindet. In der Kontrollgesellschaft verbinden sich die Netze zu einem großen globalisierten Netz, in welchem Mächte einzelne Knotenpunkte kontrollieren und diese regulier- oder passierbar machen. Wo sich in der Disziplinargesellschaft Individuen durch das Netz bewegen, sind es hingegen parallel zur Vermassung [S. 286, focault2001vgv] der Kontrollgesellschaft Arten von Strömen die gemessen oder deren Fluss unterbrochen werden kann.

Deleuze weist der Disziplinargesellschaft den Begriff der Registernummer und der Kontrollgesellschaft den der Chiffre zu. Erlaubt die Registernummer noch eine analoge Verarbeitung, so muss die der Chiffre zwangsweise digital sein. Der Beginn der UNIX Epoche fällt nicht zufällig in das Zeitalter der Kontrollgesellschaft. Computertechnologie ermöglichte und beschleunigt sie erst. Computer wandeln für Menschen verständliche Informationen in interne Repräsentationen um. Diese nehmen im Bereich der Software erst die Form von z.B. Hashes an und mutieren dann zu ihrer endgültigen Form als maschinenabhängiger Binärcode.

“Wir erfinden Technologien und dann verwandeln wir uns in diese Technologien: Dein Herz ist nicht WIE eine Pumpe, dein Herz IST eine Pumpe. Dein Gehirn ist nicht WIE ein Computer, es IST ein Computer. Und es geht weiter: Jetzt bist du ein neuronales Netz oder ein Informationssystem.” [Im Interview mit John Brockman, dammbeck2004n]

“Es ist einfach, jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Beziehung zu setzen, nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die Gesellschaftsformen ausdrücken, die fähig sind, sie ins Leben zu rufen und einzusetzen.” [deleuze2004pku]

Ist der Vergleich der Gesellschaft mit den Mitteln, die Sie ermöglicht wirklich zu einfach? Die Mittel sind eine Reflektion, eine Materialisierung des Wissensstandes, der Fähigkeit zur Innovation und beeinflussen das Selbstverständnis der Gesellschaft. Findet eine Verschmelzung oder ein sich teilweises überlagern der Dinge mit deren Trägern statt? Definieren sich diese über und durch die Dinge? Isoliert man beide voneinander, was bleibt dann vom anderen übrig? Welche Informationen sind in der Maschine, dem Werkzeug oder der Kleidung enthalten?

Wenn die Disziplin nur den Körper kennt, dann hat es die Kontrolle auf das (geistige und virtuelle) Leben abgesehen.

“[…] tritt jedoch an die Stelle der Fabrik das Unternehmen, und dieses ist kein Körper, sondern eine Seele ein Gas.” [deleuze1993pku]

Das Nichtsichtbare (wie die weiße Psychatrie [lucas1969thx]) ist was nur vermutet und befürchtet werden kann. Es durchdringt das Nichtsichtbare der Gesellschaft. Das ist “die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht […]” [S.282, foucault2001vgv]

Man kann es nicht umgehen und nicht unterlaufen, denn es ist scheinbar überall. Gefangen genommen, ohne Gefängnis und ohne Staatsgewalt. Das schlägt jeden Widerstand nieder bevor er begonnen hat.

Man muss glauben, dass dort etwas ist. Ist man dagegen, bleibt vielleicht zuerst nur die Flucht in das virtuelle Netz, welches völlig unkontrolliert scheint. Jetzt gefährdet die (höhere) Macht im verkehrten Sinn die Sicherheit des Ganzen [S.294, foucault2001vgv]. Auch der inselhafter Charakter des virtuellen Netzes wird schließlich infiltriert werden und an das wirkliche Netz angeschlossen. Oder war es nie als Insel konzipiert? Stellt sich vielleicht nur der Ursprungszustand wieder her?

So endet die fortgesetzte Flucht in der Subversion dem Unterscheiden von allem oder in einem Aufgehen in der Gesellschaftsmasse.

“[…] denn es liegt in der Natur des Hackers, sich im Verlauf der Zeit sogar von sich selbst zu unterscheiden. Hacken heißt sich unterscheiden.” [§003, wark2004hm]

Bibliographie

deleuze1993pku
Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften in: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main, Seiten 254–262, 1993.
focault2001vgv
Foucault, Michel und Michaela Ott: In Verteidigung der Gesellschaft: Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Suhrkamp, 2001.
dammbeck2004n
Dammbeck, Lutz: Das Netz, Film, 2004.
lucas1969thx
Lucas, George: THX 1183. Film, 1969.
wark2004hm
Wark, McKenzie: Hacker Manifest. C.H. Beck, 2004.

Zum Text

Dieser teilweise neu überarbeitete Text ist der erste Teil einer Reihe von drei Essays und entstand ursprünglich im Februar 2009 während eines Seminars zum Thema Kontrollgesellschaften.